In der Personalentwicklung hat sich das sogenannte 70:20:10-Modell seit den 2000er Jahren schrittweise etabliert. Mittlerweile gibt es zahlreiche Blogs, welche sich mit der Bedeutung des Modells für das Lernen im Beruf auseinandersetzen. Dieser Beitrag beleuchtet die Kritik am Modell und wie digitale Lernmethoden das Lernen nach dem 70:20:10-Modell erleichtern können.
Das 70:20:10-Modell erklärt
Die Zahlen im Modell drücken die Verhältnisse aus, zu denen das Lernen im professionellen Kontext passiert. Dem Modell nach finden nur 10% des Lernens in formellen Lernangeboten wie Trainings und Kursen statt. 20% lernen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im sozialen Austausch wie in Coachings, Mentorings oder in der kollegialen Zusammenarbeit. Der größte Anteil des Lernens entfällt auf Herausforderungen und Erfahrungen in der täglichen, praktischen Arbeit.
Auf den ersten Blick mögen die Verhältnisse verwundern, doch mit genauerem Nachdenken ist diese Verteilung durchaus logisch. So lernen wir doch beim Lösen praktischer Probleme viele wichtige Fähigkeiten für unseren (Arbeits-)Alltag. Ein Paradebeispiel ist der Excel-Kurs, in dem man sich mit S-Verweisen beschäftigt. Zumeist wird die Anwendung einer der nützlichsten Funktionen in dem Programm direkt nach Kursende vergessen. Müssen wir die Formel allerdings praktisch anwenden und sparen uns dabei viel Arbeit, sitzt die Anwendung ganz schnell.
Die Kritik am 70:20:10-Modell
Obwohl das Modell bereits seit vielen Jahren im Sektor des professionellen Lernens bekannt ist, fehlen empirische Belege für dessen Wirksamkeit. Dies ist auch den Autoren Johnson, Blackman und Buick (2018) bewusst geworden. Sie haben in einer teilstrukturierten Befragung in den Bundesbehörden in Queensland und Australien die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie die Führungskräfte zu deren Einschätzung zur Umsetzung des Modells befragt.
Dabei fanden die Autoren heraus, dass trotz der weitläufigen Anwendung des Modells in den australischen Behörden kein ausreichender Lerntransfer beobachtet werden kann. Die Autoren machen für die nicht erfolgreiche Anwendung des Modells drei Annahmen verantwortlich. Die folgenden Stichpunkte entsprechen der Studie zufolge nicht der Realität in den Unternehmen:
- Aus Erfahrungen am Arbeitsplatz folgen direkte Lernzuwächse und somit eine Verbesserung der Leistung auf der Arbeit.
- Soziales Lernen geschieht hauptsächlich in institutionalisierten Settings.
- Nehmen Mitarbeiter an Fortbildungen teil, so werden sie automatisch kompetenter auf einem Gebiet.
Daraus folgt, dass sowohl Erfahrungen, als auch Trainings nicht direkt einen Kompetenzgewinn auslösen. Soziales Lernen darf nicht nur in Form von Mentorings, Coachings und Netzwerken geschehen, sondern muss auch durch Beobachtung, Nachahmen und informellen Austausch möglich sein. Letztlich fordern die Autoren eine integration der drei Elemente des 70:20:10-Modells. Einen ausführlichen Blogbeitrag zu den Forschungsergebnissen von Johnson et al. findet sich auf der Website des Swiss Competence Centre for Innovations in Learning (SCIL).
Blended Learning und das 70:20:10-Modell
Mithilfe von Blended Learning lassen sich die verschiedenen Elemente des Modells miteinander verbinden und in einen sinnvollen Zusammenhang bringen. “Blended Learning” sei an dieser Stelle im weitesten Sinne definiert: als eine Mischung aus unterschiedlichen Lernsettings und -methoden, nicht nur als eine Mischung aus Online- und Offline-Lernen. Formelle Angebote werden mit dem Arbeitsalltag in Verbindung gebracht und in Hinblick darauf selbstständig oder im Team reflektiert. Reine e-Learning Angebote suchen sich die Mitarbeitenden passend zu ihren aktuellen Herausforderungen im Job aus und wenden das Gelernte direkt in der Praxis an.
Dieses selbstständige Lernen sollte jedoch nicht unreflektiert und ohne soziale Begleitung geschehen. Gerade durch die Interaktion mit Kolleginnen und Kollegen werden Lerninhalte individuell und sozial bedeutsam. Das vorgestellte Modell hat viele Unternehmen dazu bewegt, eine große Reihe von Selbstlernangeboten für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zur Verfügung zu stellen. Die Auswirkungen auf die tägliche Arbeit sind allerdings oftmals ausgeblieben.
Verschiedene Lernphasen und Methoden im Blended Learning erlauben die Verknüpfung der verschiedenen Lernsettings. Eine mögliche Kombination könnte beispielsweise wie folgt aussehen: Während in einer ersten Online-Phase das Vorwissen und die praktischen Erfahrungen zum Gegenstand des Lernens werden, findet in der Präsenzphase (die offline oder online stattfinden kann) der aktive Austausch mit der Lerngruppe statt. Gemeinsam wird hier an Projekten gearbeitet, Wissen experimentell angewendet und Handlungen geübt. Der Weg in den Arbeitsalltag wird mit einer abschließenden Online-Phase mithilfe von Transferaufgaben und konkreten Projektvorhaben geschaffen.
Soziale Interaktion findet durchgehend statt. Sie stößt Reflexionsprozesse an und ermöglicht darüber hinaus den Zugang zu neuen Informationen und Impulsen.
Social Video Learning als Bindeglied zwischen Lernsettings
Während das 70:20:10-Modell die verschiedenen Lerngelegenheiten strikt voneinander trennt, erlaubt die Methode des Social Video Learnings eine Verschmelzung der drei Elemente. Das Video ist zunächst eine Konservierung der täglichen Praxis. Überall, wo Bewegung und Interaktion im Spiel ist, eignet sich die Videoreflexion besonders gut. Schließlich kann man sich dort noch einmal in Ruhe das eigene Handeln ansehen und muss in der Reflexion nicht ausschließlich auf die eigene Erinnerung zurückgreifen.
Über das Alltagshandeln hinaus können auch exemplarische Anwendungen von Inhalten mithilfe von Videographie zum Gegenstand des Austauschs werden. Auf diese Weise wird ersichtlich, wie die Grenzen zwischen formellen Lerninhalten und sozialem Lernen sowie der akuten Problemstellung im Job aufgelöst werden.
Social Video Learning setzt genau an den Grenzen konventioneller Lernmethoden an. Wird ein Video zum Interaktionsgegenstand, wird gleichbedeutend auch die abgebildete Handlung zum Gegenstand des Austauschs zwischen Menschen. Entgegen der klassischen Trennung von arbeitspraktischem Lernen, sozialem Lernen und formellem Lernen adressiert die Methode Social Video Learning alle drei Elemente des beruflichen Lernens und ist daher ganzheitlich.
Ganzheitliche Lernkultur fördern
Mit diesem ganzheitlichen Ansatz verändert sich auch die Rolle der Lernbegleiter. Während in der Arbeitspraxis der Lernende selbst den Prozess begleitet, im sozialen Lernen die Führungskräfte, Kolleginnen und Kollegen als Begleiter zur Verfügung stehen und in formellen Weiterbildungen externe Referierende diese Rolle einnehmen, braucht es in dem beschriebenen Blended-Learning-Format einen ganzheitlich ausgebildeten Lernbegleiter, der in allen Lernsettings unterstützend zur Seite steht.
Somit wächst sowohl der Anspruch an die Lernbegleiter, als auch an die Organisation. Erst wenn Wissensbarrieren wie eine negative Fehlerkultur abgebaut werden, kann ein umfassender Ansatz Erfolg bieten. Doch anstatt in drei verschiedene Programme zu investieren und dabei immer wieder neu priorisieren zu müssen, bietet ein einziger Ansatz die Chance, situationsgerecht zu lernen und genau an den Bedürfnissen der Lernenden anzusetzen.
Mit einem sorgfältig ausgearbeiteten Blended-Learning-Konzept rücken fließende Übergänge und 100% Kompetenzentwicklung an die Stelle eines abgegrenzten, theoretischen 70:20:10-Lernmodells!